Selbstjustiz, Gerechtigkeit und Zweifel: ein packender Roman
Ein Strafrichter, der an sich selbst zweifelt und eine Frau, die den Mörder ihres Sohnes vor Gericht erschießt. Diese beiden Schicksale verknüpft Markus Thiele in seinem komplexen und tiefgründigen Roman „Die Wahrheit der Dinge“.„Die Wahrheit der Dinge“ ist weder Krimi noch Thriller im klassischen Sinne, und doch hat mich der Roman von Anfang an gepackt. Da ist zum einen Strafrichter Frank Petersen. Er liebt seinen Job und ist überzeut von seinen Urteilen und der Unfehlbarkeit des Rechts. Bis er aufgrund eines Urteils in die Kritik gerät und der Bundesgerichtshof sein Urteil erneut bewertet. Petersens Frau wirft ihm vor, selbstherrlich und von Vorurteilen geleitet zu sein. Sie zieht vorübergehend aus und der Sohn gleich mit.
Und dann ist da Corinna Maier. Corinna Maier hat das getan, was sich vermutlich viele Menschen vorstellen können, deren Angehörige ermodet werden: Sie hat den mutmaßlichen Mörder ihres Sohnes im Gerichtssaal erschossen, noch bevor Richter Petersen das Urteil verkünden konnte.
Genau dieser Vorfall, der bei Petersen ein Trauma ausgelöst hat, kommt jetzt – im Jahr 2015, als Corinna Maier ihre Haftstrafe abgesessen hat und freikommt – wieder hoch und beschäftigt den Richter Tag und Nacht.
Der Jurist nimmt seine momentane Krise zum Anlass, seine Denkweise zu hinterfragen und geht den Auslösern für seine berufliche und familiäre Situation auf den Grund. Die Sprache, die Markus Thiele wählt, ist klar, prägnant und mit eindeutigen Bildern. Ich persönlich mag Sätze wie diesen: „Petersen braucht Richtung, und sein Kompass hat den Geist aufgegeben.“ In einem parallelen Erzählstrang springt Autor Markus Thiele immer wieder in die Zeit Ende der 1980er-Jahre zurück. Corinna Maier ist Studentin und lernt den afrikanischen Gastdozenten Steve kennen. Sie werden ein Paar. Corinna ist hochschwanger, als Steve von Rechtradikalen zusamengeschlagen wird.
Jahre später wird der Sohn von Corinna Maier ebenfalls ermordet – sie rächt ihren Sohn und erschießt dessen Mörder im Gerichtssaal. Richter in der Vehandlung ist Petersen. An diesem Punkt treffen sich die Lebenslinien von Corinna Maier und Frank Petersen. Der Richter beschließt, Corinna Maier kurz vor ihrer Haftentlassung zu besuchen. Er hofft, in dieser Begegnung die Antwort auf seine Fragen zu finden.
„Die Wahrheit der Dinge“ ist ein sehr tiefgründiger Roman, der sich um die Themen Fremdenfeindlichkeit, Spaltung der Gesellschaft und Ungerechtigekt dreht. An vielen Stellen ist das Buch sehr leise und dennoch möchte man schreien. Warum? Weil es mir vor allem in den Passagen, die aus der Perspektive Corinna Maiers geschrieben sind, so ging, dass ich am liebsten in die Handlung eingegriffen hätte. Wenn Markus Thiele beschreibt, wie Steve in der Bahn gedemütigt wird oder wie Corinna Maier es nicht fassen kann, dass ihr Partner tot sein soll, nimmt einen das als Leser sehr mit.
Mein Fazit: „Die Wahrheit der Dinge“ bringt einen an vielen Punkten zum Innehalten und Nachdenken und überzeugt durch das „Innenleben“ seiner Figuren. Besonders spannend finde es immer, wenn einem fiktiven Roman reale Verbrechen zugrunde liegen.
„Die Wahrheit der Dinge“ ist eine fiktive Geschichte, deren Handlung allerdings reale Vorbilder hat. Markus Thiele erklärt im Nachwort, dass sich die Figur der Corinna Maier an Marianne Bachmeier orientiert. Sie hat 1981 in Lübeck vor Gericht den Mörder ihrer Tochter erschossen. Das zweite reale Vorbild, diesmal für den Lebensgefährten von Corinna Maier, ist Amadeu Antonio Kiowa. Der Schwarzafrikaner wurde 1990 von Skinheads in Eberswalde brutal zusammengeschlagen und starb elf Tage später an seinen Kopfverletzungen. Wie Corinna Maier im Buch war auch Kiowas Freundin hochschwanger, als die Neonazis zuschlugen.
Markus Thiele: „Die Wahrheit der Dinge“, 240 Seiten, Benevento, ISBN-13 9783710900938, 22 Euro (Hardcover), 16,99 Euro (eBook)